22.06.2023
Am Department Electronic Engineering der FH Technikum Wien (Kompetenzfeld IoT and Electronics) werden technische Lösungen für Menschen mit eingeschränkter Beweglichkeit erforscht. Die Entwicklung dieser Systeme wird u.a. von der Stadt Wien (MA23) im Rahmen des Projektes „Wissensdrehscheibe für Barrierefreie Technologien“ gefördert. Die Verbreitung findet in Zusammenarbeit mit dem gemeinnützigen Verein AsTeRICS Foundation statt. Die entwickelten Lösungen umfassen Hardware- und Software-Applikationen wie die FlipMouse Mundsteuerung, das Tasten-Interface FABI (Flexible Assistive Button Interface) oder das FlipPad – ein kapazitives Touchpad mit speziellen Funktionen zur Umgebungssteuerung. Diese Geräte werden als Bausätze angeboten und können von Anwender*innen bzw. deren Bezugspersonen selbst zusammengesetzt werden.
Die Entwicklung und Evaluation der technischen Lösungen wurden an der FH Technikum Wien unter Beteiligung von Menschen mit Behinderung im Zuge mehrerer Forschungsprojekte durchgeführt. Die Projekte haben das Ziel, Menschen mit schweren körperlichen Einschränkungen Möglichkeiten zu geben, elektronische Geräte zu steuern und so mehr Autonomie und Unabhängigkeit bei der Verwendung digitaler Technologien zu erlangen. So kann etwa das Internet genutzt, die Umgebung im Smart Home gesteuert sowie Computerspiele oder Musikinstrumente gespielt werden.
„Dies eröffnet viele Aktivitäten für Menschen mit Einschränkungen, sodass sie Ideen verwirklichen, Emotionen ausleben und soziale Teilhabe erleben können. Wenn unsere Technologien das tägliche Leben von Menschen bereichern, dann sind das die besten Momente unserer Arbeit“, so Christoph Veigl, Projektleiter der Wissensdrehscheibe für Barrierefreie Technologien und CEO der AsTeRICS Foundation.
Aktuell arbeiten im Team der Wissensdrehscheibe auch Benjamin Aigner und Benjamin Klaus (Department Electronic Engineering), Agnes Scheibenreif (Department Life Science Engineering) sowie Patrick Link und Lukas Aichbauer (Department Computer Science). Die Wissensdrehscheibe kombiniert damit die Expertise aus drei Departments der FH Technikum Wien in einem interdisziplinären Projekt.
FABI und FlipPad: Computer oder Umgebung durch kleinste Fingerbewegungen steuern
Das FABI-System ersetzt Computermaus oder Keyboard und ermöglicht komplexe Interaktionen über einen oder mehrere Taster (Assistive Switches). So kann schrittweise eine Menüauswahl erfolgen, der Maus-Cursor gesteuert, Buchstaben und Worte eingegeben und durch eine synthetische Stimme ausgesprochen werden.
Das FlipPad dient ebenfalls zur Computersteuerung sowie zur Verwendung von Geräten in der Umgebung über eine integrierte Infrarot-Fernsteuerung. Hier wird als Sensor ein kapazitives Touchpad verwendet, welches kleinste Fingerbewegungen misst. Das FlipPad erhielt bei der „TOM Global Abraham Accords Open Innovation Challenge 2022“, einem Wettbewerb für die Neuentwicklung Assistiver Technologien, an dem 80 Teams 40 internationaler Universitäten teilnahmen, den Hauptpreis – ein großer Erfolg für das Team der FH Technikum Wien!
All diese Geräte können je nach Anwendung und Person individuell konfiguriert und kombiniert werden, während erhältliche Standard-Lösungen oft nicht ausreichend sensibel sind.
„Unser Ziel ist es, auch Menschen mit starken motorischen Einschränkungen durch individuell anpassbare Eingabesysteme so zu unterstützen, dass sie digitale Technologien barrierefrei nutzen können. Wenn etwa jemand Einschränkungen im Bereich der Arme und Hände hat, aber Bewegungen der Mundmuskulatur möglich sind, kann die FlipMouse ein ideales Eingabesystem sein. Wir machen Menschen ein Angebot, die am kommerziellen Markt keine passende technische Unterstützung finden“, so Veigl.
FlipMouse: Klickaktivität durch Druckänderungen am Mundstück
Die FlipMouse verfügt über einen „Null-Wege-Joystick“, der sehr empfindlich ist und subtile Bewegungen von Mund oder Fingern auswertet. Bereits minimale Kräfte wie Lippenbewegungen sind zur Verwendung ausreichend. Die Klickaktivität kann durch Druckänderung am Mundstück (durch leichtes Pusten oder Ansaugen – wie etwa durch die Laute „sip/puff“) oder durch Anschluss externer Taster erreicht werden. Dies ermöglicht eine präzise Steuerung von Maus und Tastatur sowie eine drahtlose Steuerung von Geräten über Infrarot-Signale oder Bluetooth.
Eine grafische Konfigurationssoftware ermöglicht es, Funktion und Empfindlichkeit der FlipMouse anzupassen. Mehrere Speicherplätze für verschiedene Konfigurationen sind auf dem Gerät verfügbar. Benutzer*innen können dadurch selbständig zwischen der Verwendung eines Computers, eines Smartphones und eines TV-Gerätes wechseln.
In der aktuellen Version 3 verfügt die FlipMouse über ein neues Sensorsystem (basierend auf Dehnungsmessstreifen und 24-Bit Analog-Digital Wandlern), wodurch die Sensitivität und die Stabilität gegenüber Störungen weiter erhöht werden konnten. Das Design wurde für die Fertigung optimiert, sodass vorbestückte Platinen den Zusammenbau des Bausatzes deutlich vereinfachen.
Bausätze können von Kund*innen selbst zusammengebaut werden
Die FlipMouse, das FlipPad und das FABI-Tasteninterface werden nicht als fertig assemblierte Geräte angeboten, sondern als Bausätze, welche über die AsTeRICS Foundation bestellt werden können. Der Verein übernimmt dabei keine Haftung für die zusammengebauten Geräte. Dadurch können die Systeme zu einem Bruchteil der Kosten von „Off-the-Shelf“-Produkten angeboten werden. Alle Design-Dateien für Hardware und Software sind über die Open Source Plattform GitHub verfügbar und können – unter Einhaltung der Lizenzbedingungen – kostenlos verwendet und verändert werden. Die AsTeRICS Foundation gibt in Zusammenarbeit mit der Wissensdrehscheibe für Barrierefreie Technologien Informationen zur Fertigung und Anwendung der Technologien in Form von Workshops weiter.
Wissensdrehscheibe mit über 10 Jahren Erfahrung
Die Wissensdrehscheibe für Barrierefreie Technologien kann auf über zehn Jahre angewandte Forschung im Bereich der individuell anpassbaren Unterstützungstechnologien zurückgreifen und stellt dieses Wissen Partnerorganisationen und Privatpersonen kostenlos zur Verfügung. Das Workshop-Programm wird u.a. von der der FH Campus Wien (Studiengänge Health Assisting Engineering und Ergotherapie), der FH Joanneum Graz (Studiengang Ergotherapie) und dem Dachverband der Ergotherpeut*innen (Ergo Austria) gebucht. Weiters nutzen Berufsgruppen wie Elementarpädagog*innen oder Therapeut*innen für Basale Förderklassen (Schulform für mehrfach behinderte Kinder und Jugendliche) das Angebot der Wissensdrehscheibe. Das Workshop-Programm wird im Rahmen des bis August 2025 laufenden Projektes „Inclusion International“ ausgebaut und im internationalen Kontext angewendet. Zu den Benutzer*innen der speziellen Eingabesysteme zählen etwa Personen mit Dychenne Muskeldystrophie (DMD), Spinaler Muskelatrophie (SMA), Amyotropher Lateralsklerose (ALS), Zerebralparese oder Querschnittlähmung (insb. Tetraplegie). Die Technologien werden u.a. im Haus der Barmherzigkeit (Wien Seeböckgasse), beim VKKJ Strebersdorf (Verantwortung und Kompetenz für besondere Kinder und Jugendliche) und im Krankenhaus Nord eingesetzt.
Smart Living Lab als ideale Umgebung zur Anwendung Assistiver Technologien
Die FH Technikum Wien verfügt mit dem „Smart Living Lab“, welches im Mai 2019 fertig gestellt wurde, über ein Labor zur Kombination von Assistiven Technologien mit moderner „Smart Home“-Infrastruktur: auf über 250m² Nutzfläche – bestehend aus Wohnbereich, Nass- und Schlafraum, Küche und Seminarbereichen (alle ausgestattet mit Smart Home Funktionen) – steht eine ideale Umgebung für die Lehre sowie weitere Forschungsprojekte zur Verfügung. Hier können User-Tests und partizipative Entwicklungen unter Beteiligung von Menschen mit Behinderung stattfinden und die Integration neuer Technologien kann geplant und implementiert werden.
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